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Bundesliga

VAR jeder Vernunft

Seit Jahren ist der „Video Assistant Referee“ Teil des Fußballs, doch etabliert hat sich das Konzept noch immer nicht. Die intransparente Anwendung und zu viele Sollbruchstellen verhindern die Akzeptanz der Fans.

Thomas RostFoto: Andrea Piacquadio/Pexels
21. Januar 2023|14:23 Uhr
Wann ist ein Foul ei Foul? Die fehlende Transparenz des VAR lässt Fans häufig ratlos zurück. (Foto: Phillip Kofler/Pixabay)

Vor allem die unnötige Selbstbeschneidung ist ein Problem, außerdem die noch immer fehlende Transparenz. Obwohl munter hin und hergefunkt wird, obwohl riesige HD-Leinwände in den Stadien jeden Eckstoß mit Unterstützung eines Werbepartners präsentieren, bekommt der Fan auf der Tribüne und vor dem Bildschirm keine Erklärung der finalen Entscheidungen. Man erinnert sich prompt an die Schulzeit, in der Matheaufgaben grundsätzlich mitsamt des vollständigen Rechnungswegs vorzulegen waren, um die volle Punktzahl zu erreichen.

Mangelnde Aufklärung

Der VAR hingegen lässt sich gerade mal zur Bekanntgabe seiner Entscheidung hinreißen, im Fall einer Abseitsstellung liefern die TV-Sender immerhin bei nächster Gelegenheit eine grafische Reproduktion. Aber reicht das? Gerade in den sogenannten subjektiven Entscheidungen, etwa bei einem folgenschweren Zweikampf oder einem möglicherweise strafbare Handspiel, erfährt man höchstens nach dem Spiel, aus welchem Grund das Schiedsrichterteam sein Urteil wie erfolgt gefällt hat. Das gilt wohlgemerkt nicht für die Fans im Stadion, sondern lediglich die Fernsehzuschauer, die allerdings noch während des laufenden Spiels bereits mit oft eher weniger versierten „Experten“-Meinungen vorgeprägt werden.

Fairerweise muss man dazu sagen: Allen recht machen können es die Referees sowieso nicht. Schließlich sind Fußballfans von Hause aus parteiisch: Foul ist es immer nur, wenn es der Gegner macht. Gerade deshalb wäre eine transparentere Herangehensweise jedoch wünschenswert, um die Aufregung nicht erst hochkochen zu lassen, bevor man eine Erklärung folgen lässt. Doch wie selten das vorkommt zeigt auch die (unabhängig davon verdiente) Auszeichnung des Bremer Stadionsprechers Arnd Zeigler, der seiner Tätigkeit als Moderator auch hier gerecht wurde, indem er die Begründung für ein korrekterweise aberkanntes Tor für die Heimmannschaft einfach selbst lieferte und damit sofort die Wogen glättete.

Eingeschränkter Spielraum

Relativierend sei an dieser Stelle erwähnt, dass die Entscheidung tatsächlich zweifelsfrei korrekt war – und es glücklicherweise überhaupt zu einem Eingriff des VAR kam. Denn noch immer ist die Möglichkeit zum Eingriff des Video-Assistenten beschränkt. So gelten zwar grundsätzlich klare und offensichtliche Fehlentscheidungen als mögliches Betätigungsfeld, nicht jedoch bei Freistößen oder Einwürfen – es sei denn, sie fallen in eine Angriffsphase, die wiederum mit einer überprüfungsfähigen Szene wie einem Torerfolg oder Strafstoß endet. Wer also ein Foul begeht, dabei den Ball erobert und „unmittelbar“ ein Tor erzielt, muss damit rechnen, dass es aberkannt wird. Wer hingegen gelb vorbelastet ein ungeahndetes Foul begeht (oder nur mit einer „allerletzten“ Ermahnung bedacht wird), kommt in der Regel ohne Platzverweis davon. Schließlich sind nicht alle Platzverweise vom VAR zu prüfen, sondern lediglich Rote Karten – obwohl die Konsequenz von Rot und Gelb-Rot für das laufende Spiel effektiv dieselbe ist.

Warum also diese nicht nachzuvollziehende Beschränkung auf bestimmte Szenen?Als Argument dafür bemühen Vertreter von Verbänden und Ligen gebetsmühlenartig die düstere Prognose, dass ansonsten jeder Einwurf und jedes Foul eine Unterbrechung nach sich ziehen würde. Damit wird allerdings automatisch impliziert, dass jede dieser Entscheidungen falsch und damit überprüfungswürdig sei, was selbstverständlich völliger Unsinn ist.

Zwischen Detektivarbeit und Däumchendrehen

Die meisten Entscheidungen in einem Fußballspiel sind offensichtlich, nur selten kommt es zu einer Ecke, die eigentlich ein Abstoß hätte sein müssen (und umgekehrt). Doch obwohl der VAR in diesen Situationen auch ohne künstliche Unterbrechung auskommt (die Situation an sich zieht schließlich bereits eine kurze Pause nach sich) und in den meisten Fällen sofort erkennt, ob eine Fehlentscheidung vorliegt, ist er zur Untätigkeit verdammt.

Die längsten Unterbrechungen zieht nach wie vor die Prüfung von knappen Abseitssituationen nach sich. In dem Zusammenhang stellt sich auch immer wieder die Frage, wie klar und offensichtlich falsch eine Millimeterentscheidung eigentlich sein kann. Natürlich, es gibt beim Abseits nur Schwarz und Weiß, doch wo genau liegt die Grenze zwischen den beiden Extremen? Ein Frame des TV-Bilds kann hier einen wesentlichen Unterschied darstellen und so kommt es nicht selten zu Unterbrechungen, die weit über den Sekundenbereich hinausgehen. Was früher „im Zweifel für den Angreifer“ allgemein akzeptiert war, ist zu einer absurden Detektivarbeit mutiert, die Verbände und Befürworter des VAR dennoch mit schöner Regelmäßigkeit ausdrücklich ablehnen.

Regelwerk versus Realität

Noch absurder wird diese versteifte Haltung dadurch, dass das Regelwerk ansonsten vor allem darauf bedacht ist, die Offensive zu begünstigen. So wird beim Elfmeter gebetsmühlenartig betont, dass ein Vorteil für den Schützen (und damit ein Nachteil für den Torwart) erwünscht ist, was wiederum den ursprünglichen Ansatz, eine zuvor verhinderte, klare Torchance wiederherzustellen, konterkariert – in den wenigsten Fällen ist die Ausgangssituation vergleichbar mit einem unbedrängten Schuss aufs Tor aus zentraler Position und mit ruhendem Ball.

Insbesondere die nahezu jährlich angepasste Handspielregel hat in Verbindung mit dem VAR dafür gesorgt, dass in gefühlt jedem Spiel mindestens eine halbhohe Flanke ins Gedränge dazu führt, dass ein Handelfmeter gepfiffen wird – mal infolge eines längeren TV-Studiums, mal gefolgt vom selbigen. Kein Wunder, dass die Spieldauer der Spiele der letzten WM als Reaktion auf die gesunkenen Nettospielminuten mit teilweise absurd anmutenden Nachspielzeiten verlängert wurde.

Umgekehrt wird noch immer viel zu häufig selbst bei klaren Fouls nicht interveniert, da laut dem immer komplizierter gewordenen Regelwerk, in dem sich inzwischen – überspitzt gesagt – Regeln und Ausnahmen um die Vorherrschaft streiten, mal wieder eine Grauzone vorliege und damit keine eindeutig falsche Entscheidung auszumachen sei. Wo derart viel Willkür herrscht und Balance fehlt, ist auch die beste Technik keine Hilfe.

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